germanische Kunst der Völkerwanderungszeit und des frühen Mittelalters

germanische Kunst der Völkerwanderungszeit und des frühen Mittelalters
germanische Kunst der Völkerwanderungszeit und des frühen Mittelalters
 
Die Erscheinungen der Kunst der Völkerwanderungszeit und des frühen Mittelalters sind Ausdruck einer Epoche des Umbruches zwischen dem Niedergang der Römerherrschaft und dem Aufgang des europäischen Mittelalters. Bestimmt wird diese uns heute politisch, wirtschaftlich und sozial gänzlich uneinheitlich erscheinende Zeitspanne zwischen dem 4. Jahrhundert und der Jahrtausendwende durch drei Phasen: die Völkerwanderungszeit (ab 375), die Merowingerzeit (vom Ende des 5. Jahrhunderts bis zur Mitte des 8. Jahrhunderts) und die Karolingerzeit (bis zum Beginn des 10. Jahrhunderts). In diesen Jahrhunderten, die man aus kunsthistorischer Sicht auch als den Beginn der »Vorromanik« bezeichnen kann, wurde all das begründet, was man später das Abendland genannt hat: Die Übernahme des christlichen Glaubens sowie des antiken Wissens von der Wirtschaft, dem Staat, dem Städtewesen, der Technik, der Schrift oder der Geschichtsschreibung wurden nun gleichermaßen zu Grundlagen der germanischen Kultur und Kunst. Da aus der frühesten Zeit schriftliche Selbstzeugnisse der Völker des alten Germaniens fehlen, liegen die geistesgeschichtlichen Hintergründe ihrer Kunst weitgehend im Verborgenen. Man kann daher lediglich aus späteren hochmittelalterlichen Quellen - etwa der Edda - vorsichtig Rückschlüsse ziehen, um ihre Bildinhalte zu interpretieren.
 
Das Erbe der Antike lebte zunächst im Kunsthandwerk, dann aber auch im Umsetzen römischer Inhalte in germanische Vorstellungen fort: »Germanisches« zeigt sich in den Anfängen kunsthandwerklicher Tätigkeit also im Spiegel des Römischen. Die Bezeichnung »germanisch« ist allerdings ein Hilfsbegriff, auf den bereits die antiken Autoren angewiesen waren. Denn »die Germanen« als geschlossenes Volk hat es nie gegeben; schon gar nicht entsprechen ihnen die heutigen »Deutschen«. Während der Völkerwanderung des 4. und 5. Jahrhunderts bestanden zwar Völkernamen, die eine ethnische Einheit suggerieren. Dass Völker in Wahrheit jedoch dynamische, sich stets verändernde Größen darstellen, hat die Geschichtsschreibung etwa des Griechen Herodot oder des Römers Tacitus noch nicht sehen können; ihre Denkweise, der die gelehrte Welt bis ins 19. Jahrhundert Glauben schenkte, ist noch einem monographischen Geschichtsbild verbunden. Ostgoten, Gepiden, Wandalen, Westgoten, Langobarden, Franken, Alemannen, Thüringer und Baiern, die sämtlich - wenn auch in unterschiedlicher Intensität und nur in gewissen Ausschnitten - die allgemein »germanische« Kunst kannten, sind also vor allem durch die Augen der Römer bekannt geworden. Der frühgeschichtlichen Archäologie bleibt es vorbehalten, das Maß des Einflusses der Antike auf die neuen Völker Europas zu erkennen und darzulegen, was schließlich zum Eigenen in der Kunst der Germanen wurde.
 
Nachdem die Römer kurz vor Christi Geburt in den Gebieten nördlich der Alpen die germanischen Provinzen und im heutigen Frankreich die keltische Region Gallien eingerichtet hatten, lebten die germanischen Völker - als vorgeschichtliche schriftlose Stammeskulturen - rund 300 Jahre lang neben den römischen Grenzen an Rhein und Donau, ohne eine bildliche Kunst oder etwa die Schrift zu übernehmen. Eine Wende zeichnete sich erst mit der Auflösung der römischen Provinzen seit dem 4. Jahrhundert ab, als die Römer sich bezahlter fremder, vor allem fränkischer und alemannischer Heere bedienen mussten, um sich gegen andere germanische Völker verteidigen zu können. Innerrömische Auseinandersetzungen nach der Mitte des 3. Jahrhunderts hatten die Schwächung beziehungsweise Auflösung des Obergermanisch-Rätischen Limes zur Folge, was zu einer Durchdringung der römischen und der germanischen Welt führte, die enger war als je zuvor. In dieser Zeit, in der der Anteil des Nehmens und der des Gebens kaum abzuschätzen ist, entstand eine dekorative Kunst ausschließlich für Alltagsgegenstände der sozial führenden Kriegerschicht Germaniens - in einer Klasse, die durch den generationenlangen Militärdienst im römischen Heer längst römische Moden und Lebensart angenommen hatte.
 
Der Kerbschnittstil kam in erster Linie auf den breiten »Militärgürteln« zur Anwendung - auf Bronzegussarbeiten, die mit schwungvollen pflanzlichen und geometrischen Mustern oder mit naturalistisch gestalteten, »schützenden« fantastischen Seewesen verziert sind. Seinen Namen gaben ihm die mit einem Stichel in die Oberfläche des Urmodells eingekerbten Dekorelemente. In der zweiten Hälfte des 4. und in der ersten Hälfte des 5. Jahrhundert fand sich dieser flächendeckende Stil in Militärlagern entlang den alten Reichsgrenzen im Westen Europas und im Osten an der Donau. Dass die Erzeugnisse spätrömischer Militärausstatter in Nordgallien, Belgien und im freien Germanien in den Grabinventaren fränkischer Soldaten des römischen Heers erscheinen, kann als ein unübersehbares Zeichen germanischer Bereitschaft zur Übernahme römischer Dekorationskunst gewertet werden. Erste selbstständige Ableitungen und Imitationen dieses Formenschatzes vollzogen sich - im sächsischen Reliefstil oder im Nydam-Stil - im Weser-Elbe-Dreieck, im heutigen Süddänemark, in Südnorwegen und Südschweden unter Mitwirkung ehemals römischer Kunsthandwerker, die als Kriegsgefangene oder freiwillig im Dienst der neuen germanischen Herren standen. Der im tiefen Kerbschnitt ausgeführte spätrömische Militärstil führte somit über Technik und Bildinhalte direkt zum germanischen Tierstil.
 
Erzeugnisse der Kleinkunst Südskandinaviens, vor allem Jütlands, lassen am Ende des 5. Jahrhunderts völlige Selbstständigkeit in der Beherrschung der Technik, der Formen und des Dekors erkennen. Das römische Erbe hatte eine Eigendynamik entwickelt: Die Randtiere der römischen Kerbschnittbronzen erscheinen jetzt als Flächendekor; der germanische Tierstil I, der durch die strenge Addition kauernder Tiere in Kerbschnitttechnik gekennzeichnet ist, war entstanden. Dieser Stil findet sich nun auf fast sämtlichen Schmuck- und Gebrauchsgegenständen der wohlhabenden germanischen Bauernkriegerschicht. Anfänglich sind die Bildinhalte des Stils I noch dem römischen Formenschatz verbunden: kauernde, nicht identifizierbare Vierfüßler, Mischwesen zwischen Land- und Seetieren, menschliche Köpfe in symmetrischer Komposition, begleitet von Fabeltieren, ausgefüllt in schwerem vergoldetem Silberguss. Liest man die Tierornamentik wie eine Schrift, so erkennt man Tier-Mensch-Mischwesen, ferner Menschen, die sich in Tiere, und Tiere, die sich in Menschen verwandeln; man sieht auch das schamanistische Zerstückelungsmotiv, bei dem Köpfe, Beine oder Körper von Tieren, aber auch menschliche Details, in scheinbar unorganischer Weise neben- und aneinander gesetzt dargestellt werden. Zweifelsohne hat die Tierornamentik mit Mensch-Tier-Glaubensvorstellungen zu tun, die sich auch in Personennamen (Agilulf = Adlerwolf) zeigen. Die autosuggestive Tierverwandlung oder die Verkleidung mit Tiermasken - zum Beispiel als Berserker oder Werwolf - hängen eng mit schamanistischen Ekstasetechniken zusammen, wie sie aus späterer Zeit für den germanischen Bereich überliefert sind.
 
Von Südskandinavien ausgehend, verbreitete sich der Stil I nach England, vor allem nach Kent zu den Angelsachsen; er erscheint aber auch am Niederrhein und in Nordgallien bei den frühen Franken, bei den Alemannen in Südwestdeutschland, bei den Langobarden in Ungarn und in Italien. Die großen Stämme der Völkerwanderungszeit, etwa die Goten, kannten diesen ersten überregional zu nennenden Stil allerdings nicht. Ob dies mit den heidnischen Bildinhalten zu tun haben kann, die von den christlichen Goten abgelehnt werden mussten, ist unklar. Zumindest ist dies ein weiteres Indiz dafür, dass die Kunst des frühen Mittelalters unmittelbar Trägerin von heidnischen Glaubensinhalten gewesen sein muss. Welch hohe Abstraktionsfähigkeit die Künstler besaßen, zeigt die große Diskrepanz zwischen der Tierornamentik und der Wirklichkeit der Tiere in der Natur: Die antike Forderung, dass die gelungene Nachahmung der Natur der Maßstab der Kunst sei, bleibt in krassem Gegensatz zur abstrakten germanischen Auffassung.
 
Im letzten Drittel des 6. Jahrhunderts ist annähernd gleichzeitig bei den Langobarden, im fränkisch-alemannischen Raum und in Skandinavien eine grundlegende Veränderung des Tierstils zu beobachten: Das additive Prinzip des Nebeneinanderstellens und der Reihungen wurde aufgegeben zugunsten einer symmetrischen Verflechtung in rhythmischer Folge; die Tierornamentik unterliegt nun dem Grundmuster des regelmäßigen Flechtbands. Wahrscheinlich gelangten diese neuen ästhetischen Ansätze aus dem antik-mediterranen Raum nach Norden. Dieser Stil II erfuhr seine Blüte um 600 und im ersten Drittel des 7. Jahrhunderts. Während seiner weiteren Entwicklung nahm er subtile fadenförmige Ausprägungen an, die ihren Höhepunkt am Ende des 7. Jahrhunderts erreichten. In Skandinavien, dem traditionstragenden Kernbereich der germanischen Tierornamentik, entwickelte sich der Stil II zu immer komplizierteren Formen hin, die in den Stil III - der Übersteigerung des Stils II - einmünden. In diesen Erscheinungen liegen auch die Anfänge der Wikingerkunst.
 
Gleichzeitig mit der abstrakten Tierornamentik im Stil I kamen in Südskandinavien naturalistische szenische Darstellungen auf, die jedoch ausschließlich auf Brakteaten beschränkt sind. Anhand der im 13. Jahrhundert niedergeschriebenen Edda konnte man die Szenen identifizieren, etwa Baldrs Tod oder Týrs Kampf mit dem Fenrichswolf. Die Darstellungen auf diesen magischen Goldanhängern, die teilweise mit Runeninschriften versehen sind, folgen den Stilmerkmalen eines primitiven »Naturalismus«. Vergleichbare Erscheinungen finden sich am Ende des 7. Jahrhunderts in der merowingischen Kunst, die zu diesem Zeitpunkt bereits vollständig christlich geprägt war. Reiterheilige, Mariendarstellungen, das Abbild Daniels in der Löwengrube und Christusbilder dokumentieren das neue Zeitalter.
 
Für die schnelle Verbreitung des spätrömischen Militärstils waren die weiträumigen Truppenverschiebungen und die nichtrömische Soldatenschaft ausschlaggebend gewesen. Handwerklich-technische und inhaltliche Faktoren bedingten dann vor dem Hintergrund der Auflösung der römischen Provinzen im Norden die Entstehung der germanischen Tierstile, deren Ausbreitung bei den wichtigsten Stämmen des frühen Mittelalters auf gemeinsame religiöse Vorstellungen zurückzuführen ist. Der vielfarbige Edelsteinstil hingegen verdankte seine internationale Verbreitung der umwälzenden Völkerwanderung, die durch das Eindringen der reiternomadischen Hunnen nach der Mitte des 4. Jahrhunderts in Osteuropa kettenreaktionsartig in Gang gesetzt wurde. Auf der Flucht oder als Verbündete der Hunnen, deren Siegeszug 451 mit der Niederlage in der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern im heutigen Frankreich endete, gelangten etwa die Goten, die Alanen und die Sarmaten nach Westen.
 
Diese germanischen Völker des Ostens, allen voran die Goten, bedienten sich in ihren ursprünglichen Wohnsitzen am Schwarzen Meer des städtischen spätantiken Handwerks, das die Goldschmiedearbeiten nach älteren georgischen Vorbildern durch die Farbigkeit von Edelsteinen, besonders des blutroten Almandins, in ein neues ästhetisches Spannungsfeld brachte: Edelsteine, in Kastenfassungen und in flächendeckenden Zellen verarbeitet, führten zusammen mit der reichlichen Verwendung von Gold und Filigran zu starker Farbigkeit. Dieser Stil dominierte die weltliche und kirchliche Kleinkunst bis in die Karolingerzeit. Er war der erste wirklich internationale Stil des frühen Mittelalters, der die gesamte Schmuckkunst der Germanen bis in 7. Jahrhundert hinein und darüber hinaus in veränderter Form bestimmte. Ostgoten, Wandalen und Westgoten, die Franken, die Iren und Angelsachsen nahmen diese - letztlich antike - Stilrichtung in ihr Kunstgewerbe auf. Wie bei der Herausbildung der Tierstile wurde auch Inhaltliches übernommen - etwa die Adlersymbolik als Zeichen des auferstandenen. Christus oder des römischen Kaisertums, als dessen Erben sich die Goten verstanden.
 
Prof. Dr. Helmut Roth
 
 
Kunst der Völkerwanderungszeit, herausgegeben von Helmut Roth. Beiträge von Birgit Arrhenius u. a. Berlin u. a. 1979.

Universal-Lexikon. 2012.

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